Psychologie 08.08.2022
Nur noch zweimal schlafen, dann darfst du zum Zahnarzt!
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Wie schafft man es, Kindern die Angst vor dem Zahnarzt zu nehmen und sie als Patienten zu einer Mitarbeit zu bewegen? Ganz einfach: durch gezieltes Überraschen! Denn indem angstbesetzte Erwartungen gebrochen werden und der Zahnarztbesuch ganz anders verläuft als von den kleinen Patienten befürchtet, entsteht Raum für neue, positive Erfahrungen. Welche Mittel für ein solches Refraiming in der Kinderzahnheilkunde zur Verfügung stehen, verrät die erfahrene Zahnärztin, Referentin und Begründerin des Konzeptes der „Ritualisierten Verhaltensführung in der Kinderzahnheilkunde“, Barbara Beckers-Lingener im exklusiven ZWP-Interview.
Frau Beckers-Lingener, worin liegt das besondere Potenzial von Ritualen im Umgang mit Kindern?
Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung wiederkehrende Abläufe und Anlässe, die es ihnen ermöglichen, sich auf etwas zu verlassen, sich auch auf etwas zu freuen oder eine ganz neue Situation zu meistern. Dabei kennen Kinder vielerlei Rituale aus ihrem Alltag – sei es durch feste Abläufe in Kindergarten, Schule und Familienleben oder im Zusammenhang mit Geburtstagen und dem Jahreszeitenkalender (von Ostern bis Weihnachten). Viele dieser ritualisierten Anlässe lösen in der Regel positive Emotionen aus und führen dazu, dass sich Kinder in ihrer Welt sicher fühlen. Indem wir in der Zahnarztpraxis genau strukturierte, sich wiederholende Abläufe (Anmeldung, Behandlung, Verabschiedung) mit Ritualen aus der Alltagswelt kombinieren – vor allem über die Verwendung von sprachlichen Markern, das heißt bekannten Wortformulierungen oder Fragen – nutzen wir den Rückhalt und die Kraft der Wiedererkennung und Vorhersehbarkeit von Ritualen und bieten Kindern ein optimales Umfeld, um sich auf uns, die Praxis und die Behandlung einlassen zu können. Und nicht nur Kinder gewinnen darüber Sicherheit, auch Eltern und das Praxisteam profitieren von einem stringenten Ablauf mit klar definierten Schritten.
Worauf basiert Ihr Konzept der ritualisierten Verhaltensführung?
Die ritualisierte Verhaltensführung integriert Aspekte der verbalen und nonverbalen hypnotischen Kommunikation mit sogenannten Musterunterbrechungen und Rollenspielsequenzen. Die Musterunterbrechungen zielen darauf ab, ein erlerntes, auf früheren Erlebnissen basierendes Verhalten von Kindern gar nicht erst aufkommen zu lassen, indem eine Situation entgegen einem bisherigen Schema verläuft. Zum Beispiel ist ein Kind immer, sobald es mit der Mutter eine Zahnarztpraxis betreten und den typischen Zahnarztgeruch wahrgenommen hat, keinen Schritt weitergegangen oder hat sich in Protest auf den Boden geworfen. Um dieses Muster zu durchbrechen, erleben Kinder in unserer Praxis keinen typischen Geruch, der die bisherige Reaktion triggern könnte. Das Kind ist im Gegenteil überrascht, dass es hier nicht so riecht, wie erwartet, und betritt die Praxis mit einer gewissen Neugierde.
Wie sieht die ritualisierte Verhaltensführung nun konkret im Praxisalltag aus? An welcher Stelle setzt sie ein?
Es beginnt schon bei der Terminvergabe am Telefon: Eltern werden angehalten, den Zahnarztbesuch in einer positiven Sprache vorzubereiten. Anstelle dem Kind zu sagen, dass es zum Zahnarzt gehen muss, wird über die Veränderung nur eines Wortes eine positive Spannung aufgebaut: Bald darfst du zum Zahnarzt gehen. Rückt der Termin näher, können Eltern mit dem Kind der Zeit entgegenfiebern: Nur noch dreimal, zweimal oder einmal schlafen, dann darfst du zu deiner neuen Kinderzahnärztin. Hier wird anhand eines sprachlichen Rituals eine besondere Erwartungshaltung genährt, die Kinder im Zusammenhang mit der Vorfreude auf ihren ersehnten Geburtstag kennen. Ebenfalls noch vor dem Termin wird den Eltern am Telefon erklärt, dass sie dem Kind vor Eintritt in die Praxis die Versichertenkarte in die Hand geben dürfen, damit sich das Kind allein anmelden kann. So bekommt es nicht nur die Chance, Verantwortung für sich und seine Zähne zu übernehmen, sondern auch Auskunft über sich zu geben und mit dem Praxisteam einen direkten Kontakt aufzunehmen. Die elterliche Begleitung rückt in den Hintergrund, die Kinder werden zu Hauptdarstellern im Rollenspiel „So gehe ich zum Zahnarzt“. Das Praxisteam wird automatisch Teil des Rollenspiels, indem es das Kind an der Rezeption fragt: „Wer bist du und darf ich bitte deine Versichertenkarte sehen?“ Hier beginnt die Kommunikation mit dem Kind, die dann Grundvoraussetzung für alle weiteren Schritte ist. Denn, wenn wir es nicht schaffen, gleich zu Beginn über Blicke, Gestik und Sprache direkt mit dem Kind zu interagieren, wird auch alles Weitere nicht möglich sein.
Welche Musterunterbrechungen und Rollenspiele finden in Ihrer Praxis statt?
Es geht schon mit dem untypischen, nicht zahnärztlichen Geruch in der Praxis los, der viele Kinder überrascht. Dass sie sich eigenständig anmelden sollen, ist eine weitere Abweichung von bisher erlebten Erfahrungen, bei denen die Eltern die Regie über das Kind übernehmen, bis es auf dem Behandlungsstuhl sitzt. Eine ganz wichtige Musterunterbrechung findet bei uns im Behandlungszimmer statt: Betreten die Kinder mit Mutter oder Vater das Zimmer, dürfen sie sich nicht auf den Behandlungsstuhl setzen. Das ist verboten. Sie können auf Hocker, Sofa oder dem Schoß der Eltern Platz nehmen; das Sitzen auf dem Stuhl, den wir als Zaubersessel oder Pilotenstuhl bezeichnen, ist erst erlaubt, nachdem ich die Kinder dazu einlade. Wir greifen hier auf das einfache Prinzip, „was ich nicht darf, das möchte ich“, zurück. Diesen Ablauf kennen die Kinder von früheren Zahnarztbesuchen in anderen Praxen nicht. Dort haben sie meist auf dem Stuhl sitzend, in ihrer Wahrnehmung, auf den Henker gewartet. Bei uns in der Praxis führen die Abläufe zu großer Verwunderung und Fragen bei den Kindern (Warum darf ich nicht auf dem Stuhl sitzen?). Sobald ich dann als Behandlerin den Raum betrete, läuft die Uhr, denn ich muss die aufgebaute Spannung nutzen und die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes (die Faustregel besagt: Alter mal drei) berücksichtigen. Ich muss also schnell in die Behandlung und in das angelegte Rollenspiel einsteigen.
Worin liegt der größte Vorteil des Rollenspiels?
Die Kinder werden zu Piloten, die selbst Hand anlegen, den Stuhl hochfahren, die Lampe einstellen und die Instrumente anfassen dürfen und die gemeinsam mit mir – ich übernehme die Rolle der Kinderzahnärztin – ihre Zähne behandeln. In der Hypnose wird dieser Vorgang als Dissoziation bezeichnet, ein Herausprojizieren aus der Ich-Bezogenheit in ein den Kindern bekanntes Set-up, nämlich dem Rollenspiel. In diesem Rollengefüge können die Kinder ihre eigene Situation von außen betrachten und erleben das Behandeltwerden nicht als eine Täter-Opfer-Konstellation, sondern als agierende Person, die mit mir im Team arbeitet. Durch die Schritte, die das Kind seit Betreten der Praxis durchlaufen hat, und den besonderen Umgang, den wir mit dem Kind pflegen, entsteht über eine positive Erwartungshaltung eine wunderbare, vom Kind ausgehende, selbstbestimmte Compliance, von der dann alle bei der Behandlung profitieren – das Kind, die Eltern, das Praxisteam und ich als Zahnärztin.
Können Sie uns bitte kurz ein Beispiel umreißen, bei dem die ritualisierte Verhaltensführung in besonderer Weise gewirkt hat?
Wir bekamen einen kleinen Jungen in die Praxis, der bei zwei Vorbehandlern mit gezielten Tritten in die Behandlungseinheiten größere Haftungsschäden verursacht hatte und so deutlich vorbelastet war. Unsere Aufgabe war es, den Jungen so weit zu bekommen, dass wir eine Erstkontrolle vornehmen und uns ein Bild vom Zustand der Zähne machen konnten. Als ich das Behandlungszimmer betrat, saß der kleine Junge neben seiner Mutter auf der Sofakante und hatte große Fragezeichen im Gesicht, denn er musste ja schon seine Versichertenkarte allein abgeben und war zudem alle anderen Stationen der Musterunterbrechungen in der Praxis durchlaufen. Ich begrüßte ihn mit den Worten: „Hallo Lukas, möchtest du gerne mal Pilot sein?“. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet, ebenso wenig wie mit dem Verbot, den Behandlungsstuhl weder anfassen noch darauf sitzen zu dürfen. Er war völlig erstaunt und gebannt, weil er sich natürlich auf Zahnarzt eingestellt hatte, jetzt aber in einer Situation befand, die nichts mit dem bisher Bekannten zu tun hatte. Er bejahte meine Frage, ich erlaubte ihm, auf den Behandlungsstuhl zu klettern, fragte nach seinem Pilotenfinger, mit dem er den Stuhl hoch- und runterfahren und die Lampe betätigen sollte, und fuhr weiter im Rollenspiel als Kinderzahnärztin, die mit ihm als Piloten seine Zähne anschaut. Zusätzlich setzten wir ganz vorsichtig auch nonverbale Akzente ein, sodass sich der kleine Patient absolut sicher fühlte und am Ende freiwillig den Mund öffnete. Er hatte vollkommen vergessen bzw. überschrieben, dass es schon längst Zeit für seinen Protest und den Tritt in die Einheit gewesen wäre. Unser Vorgehen ermöglichte es ihm, den Zahnarztbesuch ganz neu abzuspeichern. Mittlerweile ist der kleine Junge ein Teenager und einer meiner treusten Patienten.
Weitere Informationen zu Barbara Beckers-Lingener unter: www.beckers-lingener.de
Dieser Beitrag erschien in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis.